DDR-PLANUNGSGESCHICHTE
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Ein Brigadetagebuch der Abteilung Theorie und Geschichte von 1975

Fund des Monats (Nr. 18 vom November 2021)

von Stefanie Brünenberg, IRS Erkner

 

Im Fund des Monats November 2021 steht eine bisher vielleicht wenig beachtete Quellengattung im Fokus der Betrachtungen: die Brigadetagebücher der Abteilung Theorie und Geschichte des Instituts für Städtebau und Architektur (ISA), des Vorgängerinstituts des IRS.

Obwohl die Bildung von Brigaden eher aus dem produzierenden Gewerken wie der Industrie oder auch den Baustellen bekannt ist, ist diese Form der Arbeitsorganisation in allen Tätigkeitsbereichen umgesetzt worden. Auch wenn gerade in der Architektur selten von Brigaden gesprochen wurde – vielmehr waren die Begriffe „Architekturkollektiv“ oder „Entwurfsgruppe“ üblicher – waren die einzelne meisten Arbeitsgruppen offiziell in diesen „kleinsten Einheiten der Produktion“ [1] eingeteilt. Zum klassischen Brigadeleben gehörte auch das Führen von Brigadetagebüchern. Dieses wurde 1959 aufgrund der Beschlüsse zum „Bitterfelder Weg“ und parallel zur FDGB-Initiative „Greif zur Feder, Kumpel!“ eingeführt. Sie dienten vornehmlich der Dokumentation der den Betrieb betreffenden Ereignisse wie Weiterbildungen der Mitarbeiter, Zielvereinbarungen zur jährlichen Planerfüllung oder Betriebsausflüge. Daneben finden sich in den meisten Tagebüchern Berichte zu Feierlichkeiten an offiziellen Feiertagen, Geburtstagen oder auch gemeinsamen Theater- und Ausstellungsbesuchen. [2] Hauptsächliches Ziel des Führens eines Brigadetagebuchs war die Teilnahme am sozialistischen Wettbewerb, um den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ (vorher: Brigade der sozialistischen Arbeit) zu erhalten, der wiederum mit einer Prämie für die Mitarbeiter*innen verbunden war. [3] Trotz dieses eindeutig politischen Auftrags sind Brigadetagebücher sehr aufschlussreich, um die Lebens- und Arbeitswelt des ISA kennen zu lernen.

  

In den Beständen der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS finden sich die Tagebücher der Abteilung Theorie und Geschichte (zeitweise auch als Abteilung Theorie, Geschichte und Soziologie benannt) sowie der Abteilung Information von 1967 bis 1988. Die Tagebücher sind DIN-A4-große Klemmbinder, die unterschiedlich viele Dokumente zusammenhalten. Im ersten Tagebuch von 1967 wurden noch die Ereignisse bis 1969 zusammengefasst (Abbildung 1), danach nimmt die Bedeutung der Tagebücher wohl zu – das Jahrbuch von 1975 (Abbildung 2) umfasst mehr als 250 Seiten.

Ein exemplarischer Blick in dieses Brigadetagebuch offenbart die reiche Menge an Themen und Material, das diese Quellen bietet. Zu Beginn der Dokumentation findet sich ein mehrseitiger Bericht über die Erfüllung der Planergebnisse von 1975 sowie eine „Kurzeinschätzung der Erfüllung des Wettbewerbs 1975 des Kollektivs“ unter den Punkten „Sozialistisch arbeiten“, „sozialistisch lernen“ und „sozialistisch leben“. Diese Einteilung entspricht dem vom FDGB geprägten Leitspruch „sozialistisch arbeiten, leben und lernen“ [4] und sollte die Durchdringung des sozialistischen Bewusstseins in allen Lebensbereichen stärken. An diese Berichte angehängt sind Listen mit gehaltenen Vorträgen, publizierten Artikeln sowie kuratierten Ausstellungen der beiden Themengruppen Stadtbausoziologie und Baugeschichte. Diese sind teilweise namentlich aufgeschlüsselt, sodass hier auch nachvollziehbar wird, welche Personen zur sogenannten „Brigade“ der Abteilung gehörten: Dazu gehörten unter anderem Bruno Flierl, Gerd Zeuchner, Olaf Weber, Kurt Junghanns, Steffi Engelstädter und einige mehr.

  

Im Anschluss daran sind Zeitungsartikel, in denen die Abteilung genannt wird, abgeheftet. Auch eine Abschrift der Rede von Erich Honecker auf dem 7. Bundeskongreß des Bundes der Architekten der DDR (Abbildung 3) findet sich hier. Bruno Flierls Übersichten zu Vorlesungszyklen gehören ebenso zur Dokumentation der Brigadetätigkeiten wie Tagungsprogramme und Auszüge aus Publikationen (Abbildung 4). Der bunte Umschlag des Katalogs zum 70. Geburtstag von Hermann Henselmann (1975) findet sich ebenfalls – ohne weitere Erklärung – in der Mitte der Mappe. Unter den ausführlicheren Tagungsberichten gehören unter anderem ein Diskussionsprotokoll des IX. ICSID-Kongresses (Kongreß des Internationalen Verbandes für industrielle Formgestaltung) zum Thema „Design und Staatspolitik“ sowie die Berichterstattung „über den 6. Kongreß der sowjetischen Architekten in Moskau vom 25.11. bis 28.11.1975“. Diese Berichte sind teilweise maschinengeschrieben, aber auch handschriftliche Notizen wurden abgeheftet. Selbstverständlich wurden auch die Urkunde zum „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ von 1974 (Abbildung 5) sowie andere Auszeichnungen dokumentiert.

Die Abteilung hatte 1975 außerdem insgesamt 240 Mark Spenden „für den Wiederaufbau Vietnams“ gesammelt, Bildungsabende der Gewerkschaft organisiert und die Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Dresden besucht. Einen großen Teil der Mappe nimmt die Dokumentation der verschiedenen Theaterbesuche ein: Hier finden sich Programmhefte und Kritiken zu einigen Stücken. Auch Personalia wurden erfasst: 1975 war eine Praktikantin in der Abteilung; Thomas Topfstedt verließ die Abteilung, um als Assistent an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zu arbeiten.

  

Im letzten Teil der Mappe findet sich unter anderem ein handschriftlicher Bericht zu den Faschingsvorbereitungen (Abbildung 6), die Einladung zu einer Kaffeerunde anlässlich des Internationalen Frauentages sowie eine ausführliche Dokumentation einer Exkursion nach Südthüringen (Abbildung 7) mit Zeichnungen, Ablauf und festgehaltenen Gesprächen. Die Postkarten mit Urlaubsgrüßen der Mitarbeiter*innen (Abbildung 8) und ein kurzer Bericht zum Besuch eines Grillabends bei einem ehemaligen Kollegen schließen den Jahresbericht ab.

Das Brigadetagebuch der Abteilung Geschichte und Theorie ist bunt: durch die vielen Zeichnungen im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch durch die vielfältigen Themenbereiche. Die Tagebücher ermöglichen einen besonderen Einblick in die Arbeitsweise, aber auch das Alltagsleben der Mitarbeiter*innen. An ihrem Entstehen waren – wie bei Brigadetagebüchern üblich – alle im Kollektiv beteiligt, jede*r steuerte etwas bei. Trotz des eindeutig politischen Charakters sind die Tagebücher damit ein Zeugnis der Kollegialität.

 

Quellennachweis

IRS Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, A 3, Karton 41 [Brigadetagebuch 1967] und Karton 44 [Brigadetagebuch 1975]

 

Anmerkungen

[1] Hofmann 2016, S. 13.

[2] Vgl. Schindelbeck 2019.

[3] Vgl. Harisch/Burton 2020.

[4] Reichel 2011.

 

Literatur

FDGB-Lexikon. Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945–1990), hg. von Dieter Dowe, Karlheinz Kuba, Manfred Wilke, bearb. von Michael Kubina, Berlin 2009, online unter: library.fes.de/FDGB-Lexikon

Harisch, Immanuel R./Burton, Eric: Sozialistische Globalisierung. Tagebücher der DDR-Freundschaftsbrigaden in Afrika, Asien und Lateinamerika. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 17 (2020), H. 3, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2020/5890, Druckausgabe: S. 578–591

Hofmann, Michael: Die Brigade – was bleibt? Ursprung, Höhepunkt und Nachwirkungen der sozialistischen Arbeitskollektive. In: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (Hrsg.): Volkskunde in Sachsen, 28/2016, Dresden 2016, S. 13–28

Reichel, Thomas: „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“. Die Brigadebewegung in der DDR (1959–1989), Köln 2011

Roesler, Jörg: Berichtsbuch, Beschwerdeschrift oder Bilderfolge? Unterschiedliche Vorstellungen zum Inhalt von Brigadetagebüchern in den Anfangsjahren der „sozialistischen Kollektive“. In: Ruth Reiher/Antje Baumann (Hg.), Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR – Was war, was ist, was bleibt, Berlin 2004, S. 206–214

Schindelbeck, Dirk: Brigadetagebücher in der DDR. Poesiealben des Sozialismus. (16.10.2019) Online unter: wissenschaft.de/magazin/weitere-themen/poesiealben-des-sozialismus

Wolters, Angelika: »Herzliche Grüße von deinem Lada«. Das Brigadetagebuch: eine DDR-spezifische Textsorte. In: Ruth Reiher/Antje Baumann (Hg.), Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR – Was war, was ist, was bleibt, Berlin 2004, S. 215–224