DDR-PLANUNGSGESCHICHTE
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CAD in der DDR – Zur beginnenden Digitalisierung von Architektur und Bauwesen (nicht nur) in Ost-Berlin

Fund des Monats (Nr. 3 vom Juni 2020)

von Kai Drewes, IRS Erkner

 

Der November 1989 war wahrlich ein einschneidender Monat in der Geschichte der DDR. Hier soll aber einmal nicht die Rede sein von Großdemonstrationen und Mauerfall, sondern von einer jener Veränderungen im Kleinen, die gleichwohl auf große Veränderungen verweisen. In diesem Fall geht es letztlich um gleich zwei umfassendere Entwicklungen: die beginnende und schnell fortschreitende Digitalisierung sowie das Erodieren des SED-Staats. Wahrscheinlich wird es nicht wenige überraschen, dass bereits in der DDR, deren baldiges Ende 1989 noch nicht abzusehen war, Computer bereits Jahrzehnte lang intensiv unter anderem in Architektur und Stadtplanung genutzt worden waren.

Beim Fund des Monats Juni handelt sich um scheinbar unscheinbare interne Kurzmitteilungen des – wie wir heute sagen würden – IT-Bereichs am Vorgängerinstitut des IRS zum Einsatz von CAD (computer-aided design) für spezielle Zwecke der Stadtplanung. Mit dem Datum 14. November 1989 gekennzeichnet ist die Ausgabe Nr. 1 der »Information für Entwickler und Anwender im Sachgebiet CAD – Stadtentwicklung/Stadtplanung«, hier als Kopie in den Unterlagen der Abteilung Wohngebiete des Instituts für Städtebau und Architektur (ISA) der Bauakademie der DDR in Berlin, [1] in dessen Nachfolge nach der Wende das heutige IRS gegründet wurde. Schrifttype und Layout zeigen, dass das Original nicht auf einer elektronischen Schreibmaschine, sondern bereits auf einem Computer entstanden ist.

In dem kurzen, einseitigen Rundschreiben teilt Reinhard Malik (geb. 1942) als Leiter der ISA-Abteilung Informatik mit, die neuen »Kurzinformationen« für die (nicht weniger als 17) »PC-Verantwortlichen der Abt.[eilungen] des ISA« sollten kontinuierlich »zu einem effektiven Informationsaustausch zwischen CAD-Entwicklern und -Anwendern« im Institut beitragen. Themen könnten diverse »aktuelle Hinweise« im Hinblick auf den Einsatz von Hardware und Software sein. Die Adressat*innen des »Informationsdienst[es]«, so Malik weiter, könnten sich gern auch selbst einbringen, wobei möglichst entsprechende »Beiträge jeweils (zwecks Kopie) auf Diskette mit Angabe des Formats« abgegeben werden sollten.

Heutzutage sind digitale Anwendungen (mit ganz anderen Möglichkeiten) selbstverständlich auf allen Ebenen ein elementarer Bestandteil von Architektur, Stadtplanung und Bauwesen, und auch wer nicht vom Fach ist, hat vielleicht schon einmal den gängigen Begriff CAD im Zusammenhang mit dem architektonischen Entwurfszeichnen am Bildschirm gehört. Hierfür gibt es eine Vielzahl an Spezialprogrammen. Anders als man vielleicht denken könnte, setzte diese technische Entwicklung aber schon lange vor den 1990er Jahren ein (siehe dazu die Ausstellung Die Architekturmaschine im Architekturmuseum der TU München 2020/21). Und nicht nur in den USA oder der Bundesrepublik, auch in der DDR kamen schon in den 1960ern Computer unter anderem im Bauwesen zum Einsatz.

So wurde 1967 in Ost-Berlin mit dem Zentrum Organisation und Datenverarbeitung (ZOD) unter Leitung von Gothar Thiel (geb. 1930) ein für damalige Verhältnisse großes Rechenzentrum eigens für das Bauwesen der DDR-Hauptstadt gegründet, das später unter anderem bei der Errichtung der Großwohnsiedlung Marzahn für die Steuerung des Baustellenbetriebs wichtig war. [2] Eingesetzt wurde ab 1968 ein Großrechner des Typs IBM 360/40, also bemerkenswerterweise aus den USA. Freilich war um 1970 in der DDR bereits etwa ein Dutzend Exemplare dieses und ähnlicher Modelle von IBM und Siemens im Einsatz, die alle regulär importiert worden waren. [3] 1969 erhielt Thiel zusammen mit anderen Führungspersonen des Berliner Städtebaus auch den DDR-Nationalpreis I. Klasse für den Aufbau des Hauptstadtzentrums, was die Bedeutung des von ihm geleiteten Rechenzentrums in diesem Zusammenhang unterstreicht. Dabei ging es zu dieser Zeit vor allem um großmaßstäbliche finanzielle, statische oder logistische Berechnungen im Bereich des Bauwesens, noch nicht um das eigentliche Entwerfen und die Detailsteuerung architektonischer Planungen per Computer.

Dies änderte sich mit CAD. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tauchte dieses Stichwort vermehrt in der DDR-Fachdiskussion auf. [4] 1987 führte die Bauakademie bereits eine Tagung zum Einsatz von CAD durch, und 1988 war eines der Hefte der Fachzeitschrift Architektur der DDR nur dem Thema CAD gewidmet. Die auf dem Titelblatt dargestellte Lärmkarte im Rahmen einer Bebauungsstudie kann als geradezu avantgardistisch bezeichnet werden, auch die Gestaltung der Abkürzung »CAD« mit angedeuteten Hausgeschossen war Programm. [5] Das Themenheft wurde eingeleitet von ISA-Direktor Bernd Grönwald (1942–1991), der die hohe Bedeutung des Ganzen vor dem Hintergrund erwarteter starker Rationalisierungsgewinne umriss und gewisse Umbrüche im architektonischen Berufsbild in Aussicht nahm. [6] Die weiteren Beiträge des Hefts befassten sich mit einer Vielzahl von Anwendungen von und Erfahrungen mit CAD in der DDR (mittlerweile bis hin zum Architekturstudium) und bildeten zahlreiche Computersimulationen ab, nicht zuletzt auch solche aus dem westlichen Ausland. Was hier nur kurz angedeutet werden kann, versprach also, jedenfalls dem Anspruch nach, einen immer weitergehenden technischen Fortschritt auf internationalem Spitzenniveau, den die DDR dann allerdings kaum noch ausnutzen konnte. In der englisch- und französischsprachigen Zusammenfassung des Hefts wird für 1988 übrigens die Zahl von DDR-weit bereits 250 CAD-Arbeitsplätzen genannt; bis 1990 solle diese auf 4.000 ansteigen, davon 1.200 mit Grafikdisplay. [7]


Einige CAD-Anwendungsbeispiele aus der Arbeit des VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt (1988) [8]

Wie ging es nun ab dem Herbst 1989 weiter im ISA mit dem Thema CAD? Im vorliegenden Aktenordner der Abteilung Wohngebiete findet sich zwar auch noch die »Information« Nr. 2 (schon vom nächsten Tag, dem 15. November): wieder eine gedruckte Seite, diesmal mit dem Verweis auf diverse Spezialvorschriften zum Thema Datensicherheit, dazu dem Hinweis, in der Bauakademie könne künftig auch das Programm Turbo Pascal 5.5 genutzt werden, erworben bei der westdeutschen Niederlassung des US-Herstellers Borland. Weitere Informationsblätter der Abteilung Informatik sind hingegen nicht überliefert. Gab es vielleicht doch noch weitere Ausgaben oder ging die rasante Entwicklung in Staat und Gesellschaft darüber kurzerhand hinweg? In besagtem Ordner gibt es ansonsten noch wenige weitere, im Detail nicht uninteressante Schreiben vor allem von IT-Leiter Malik von Anfang 1989 mit Informationen zum Stand der Computertechnik in ISA und Bauakademie und zu den Planungen für die nächste Zeit.

An den beiden »Informationen« vom November 1989 lässt sich aber nicht nur ausschnitthaft ein Stück Geschichte der Digitalisierung ablesen: Es war wohl auch kein Zufall, dass sie genau in diesem Monat erschienen. Denn eine solche direkte Kommunikation zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen, die im Idealfall allseitig, niederschwellig und kurzfristig hätte sein können, entsprach gewiss nicht dem, was zuvor Jahrzehnte lang die offizielle Organisationskultur gewesen war. Obwohl das wohl nur kurzlebige Format der IT-»Informationen« am ISA sicherlich mit Institutsdirektor Grönwald abgesprochen war, der für einen vergleichsweise reformorientierten Kurs im DDR-Bauwesen stand, lässt sich wohl sagen: Im Zuge der sich abzeichnenden Wende in der DDR gestalteten sich auch in Forschungseinrichtungen Kommunikationswege etwas dynamischer. Der beginnende Einsatz von Computern und des Informationsaustauschs über diese mag dafür ein besonders naheliegendes Beispiel sein, allerdings gab es in der DDR für den IT-Einsatz wie für Reformansätze im Bauwesen selbstredend auch eine teils längere Vorgeschichte.

Noch zu schreiben bleibt eine Geschichte der beginnenden Digitalisierung in Architektur und Städtebau in der DDR, die grenzüberschreitend, zumindest aber deutsch-deutsch angelegt sein sollte. Insbesondere mehrere Forschungsprojekte am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) können hierfür als Vorbilder dienen. Die Wissenschaftlichen Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR des IRS wiederum wären – zwecks Dokumentation und somit zur Ermöglichung solcher Forschungen – sehr interessiert an noch vorhandenen Materialien aus der DDR-Zeit, die Auskunft geben können zur damaligen Digitalisierung des Bauwesens.
 

Anmerkungen

[1] Signatur: IRS Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, A_5_164 (dort der Vorgang »CAD/CAM«).

[2] Vgl. Klaus-Dieter Simmen, Der Mann, der das Bauwesen in der DDR digitalisierte, in: Thüringische Landeszeitung vom 26. Februar 2020, S. 15, ein Porträt aus Anlass von Thiels 90. Geburtstag. Dieser hat zwei Bände mit beruflichen Erinnerungen vorgelegt: Gothar Thiel, EXTRATOUREN. Auf den Spuren von Konrad Zuse und Michail Gorbatschow durch 40 Jahre Sozialismus in der DDR, Hamburg 2015; ders., Deutschlands Kinderstube der Digitalisierung. Computer vs. Oktoberrevolution, ebd. 2019. Wichtig ist ihm, zwischen einem seiner Einschätzung nach fast euphorischen Aufbruch der DDR-Informatik unter Ulbricht und einer Phase des politischen Desinteresses daran unter Honecker zu unterscheiden. Seitens der Sowjetunion habe erst Gorbatschow die immense Bedeutung der Digitalisierung richtig eingeschätzt. Die wichtige Frage nach der Haltung der Staats- und Parteiführung der DDR zur Computertechnik (unter anderem) im Bauwesen kann hier nicht vertieft werden.

[3] Christine Pieper, Informatik im »dialektischen Viereck«: Ein Vergleich zwischen deutsch-deutschen, amerikanischen und sowjetischen Interessen, 1960 bis 1970, in: Uwe Fraunholz u. Thomas Hänseroth (Hgg.), Ungleiche Pfade? Innovationskulturen im deutsch-deutschen Vergleich (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, Bd. 41), Münster etc. 2012, S. 45–72, hier S. 65.

[4] Siehe nur Rolf Müller, Bearbeitung von Deckenelementen und Deckenmontageplänen des Wohnungsbaus am CAD-Arbeitsplatz, in: Architektur der DDR, H. 12/1986, S. 710–712; Horst Wieland, Zur Entwicklung rechnergestützter Projektierungstechnologien im Bauwesen der DDR, in: Architektur der DDR, H. 11/1987, S. 48–50 (der S. 48 von »bereits über 30 Jahre[n] Erfahrung der rechnergestützten Arbeit« bei »der bautechnischen Projektierung« und der aktuell »3. Generation dieser Entwicklung« spricht, umgesetzt in der DDR an gegenwärtig »bereits über 200 CAD-Arbeitsplätze[n] des Bauwesens in den Projektierungsbetrieben«).

[5] Konkret dargestellt sind laut Impressum »[f]arbige Isoflächen von Lärmzonen an einer Bebauung, hergestellt mit dem Rechner EC 1040«, aufgenommen »vom Farbdisplay FD 4971«, dazu die »CAD-Buchstaben in Pseudoperspektive« (Architektur der DDR, H. 4/1988, S. 1). Das Titelbild nimmt Bezug auf den Beitrag von Jürgen Rostock, Entwicklungen zum Programmsystem Städtebauhygiene, in: ebd., S. 43. Der IBM-kompatible Großrechner EC 1040 war ein Modell von Robotron, des DDR-Vorzeigebetriebs auf dem Gebiet der Computertechnik: So sehr im Heft die Internationalität des Themas CAD und die internationale Aufgeschlossenheit und Anschlussfähigkeit des Bauwesens der DDR hervorgehoben wurden, so wichtig war es, dass das Titelbild mit einem DDR-Computer erstellt worden war.

[6] Bernd Grönwald, Computer in Stadtplanung und Architektur, in: ebd., S. 7 f.

[7] Ebd., S. 56.

[8] Entnommen aus Jörg Wenzke, CAD-Industrieplanung im VEB BMK Erfurt, in: ebd., S. 18. Beschreibungen der Abbildungen: »1 ESO I–IV und Forschungszentrum, Glaskörperperspektive« – »2 VEB Nachrichtenelektronik Arnstadt« – »3 Rechnergestützte komplette Perspektive, Erfurt, Regierungsstraße«.