DDR-PLANUNGSGESCHICHTE
Portal des IRS Erkner zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR
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Geschichte einer Mietskaserne
Fotografien von Herbert Lachmann

Fund des Monats (Nr. 12 vom April 2021)

von Małgorzata Popiołek-Roßkamp, IRS Erkner

 

Wie durch ein Schlüsselloch schaut man durch das Eingangstor auf einen langen Innenhof, in dem einzelne Häuser monoton aneinandergereiht sind. Aus dieser Perspektive sehen Fenster wie Reihen kurzer Striche aus, die durch die versetzten Linien der Fensteröffnungen der hervorspringenden Treppenhäuser unterbrochen werden. Den axialen Fluchtpunkt dieser Komposition bildet das Tor des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Seite. Zwei Schornsteine einer benachbarten Fabrik, leicht nach links versetzt, unterstützen die Vertikalität, brechen aber die strenge Symmetrie des Bildes auf (Abb. 1).

Diese stimmungsvolle Szenerie der schwarz-weißen Fotografie könnte als Kulisse eines Film Noir dienen, wenn man einen solchen Film in Halle zur DDR-Zeiten hätte drehen wollen. Der Autor dieser Fotoserie, Herbert Lachmann (1905–1980), der vor allem für seine Aufnahmen von Leipzig bekannt ist [1], arrangierte die Bauobjekte auf seinen künstlerisch anspruchsvollen Bildern zu neuen geometrischen Kompositionen. Ein gutes Auge für Architektur, das in seinen Aufnahmen zum Vorschein kommt, lässt auf die von ihm fotografierten Gebäude wie auf neue eigene Kunstwerke schauen.

Auf den Fotos ist die größte Mietskaserne Sachsen-Anhalts, der Loests Hof in Halle, zu sehen. Eine geschlossene Blockrandbebauung nimmt den gesamten schmalen und langen Baublock zwischen der Schlosser-, Schmied- und Merseburger Straße (zu DDR-Zeiten Leninallee) ein. Letztere ist die Hauptausfallstraße von Halle Richtung Süden, an der sich um 1900 zahlreiche Fabriken ansiedelten, was eine neue Vorstadt entstehen ließ. Der Heimatforscher Siegmar Schultze-Galléra bezeichnete die Straße in den 1920er Jahren als eine „gründerzeitliche Via Triumphalis“, was auf den stark durch Industrie geprägten Charakter dieser Gegend hindeutet (Abb. 2).

Der Loests Hof wurde 1884 bis 1889 von dem hallensischen Bauunternehmer Rudolf Loest (1840–1904) für seine Bauarbeiter errichtet. Die Form der Anlage mit ihren Kopfbauten erinnert zusammen mit den unverputzten Ziegelfassaden an eine Kastellburg. Als mögliche Inspirationen werden ebenso italienische Renaissancepalazzi genannt, die im Notfall auch eine Verteidigungsfunktion hätten aufweisen können (Abb. 3 und 4). Die Fassade auf der Straßenseite wird durch die in Backstein angefertigten Gesimse horizontal und durch kleine Pilaster vertikal gegliedert (Abb. 5).

   

Insgesamt sind es 36 viergeschossige Häuser, die kleine, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung häufig überbelegte, Wohnungen in Größen zwischen 36 m² und 41 m² beinhalten. Die Toiletten befanden sich ursprünglich im Zwischengeschoss des Treppenhauses. Der Innenhof war mit Schuppen, Ställen und Werkstätten überbaut. [2] Für die bei den Mietskasernen üblichen Querbauten blieb auf der schmalen Parzelle kein Platz mehr. Die Anlage, in der das Wohnen und das Arbeiten räumlich miteinander eng verbunden war, stellte ein klassisches Beispiel der ungesunden Funktionsmischung dar, gegen die die moderne Stadtplanung vorgegangen ist.

Die Fotos zeigen den Zustand der Anlage mit dem entkernten Innenhof nach der Sanierung, die in den Jahren 1969 bis 1971 durchgeführt wurde. Die DDR war im Bereich der Altbauinstandsetzung ein Vorreiter im Vergleich zur BRD, in der die Kahlschlagsanierung als einzige Methode im Umgang mit den gründerzeitlichen Mietshäusern bis zum Beginn der 1970er Jahre praktiziert wurde. Ein Jahr, nachdem die Bauarbeiten am Loests Hof abgeschlossen worden waren, wurde der letzte Teil des berühmten Meyers Hofes in West-Berlin gesprengt. Damals liefen aber auch schon die ersten Westberliner Pilotprojekte von Hardt-Walther Hämer (1922–2012) in der Putbusser Straße im Sanierungsgebiet Wedding Brunnenstraße und im Block 118 am Klausenerplatz. Sie bildeten eine Grundlage für die Entwicklung des Konzeptes der Behutsamen Stadterneuerung, das bei der Internationalen Bauausstellung IBA 1987 eingesetzt wurde.

In der DDR hatte es deutlich früher, bereits ab dem Ende der 1950er Jahre, Beispiele der Instandsetzung der Altbauten unter anderen im Peterkirchviertel in Görlitz und in der Inneren Neustadt von Dresden gegeben. [3] Für beide Projekte war Bernhard Klemm (1916–1995) verantwortlich, der zur Entwicklung der städtebaulichen Denkmalpflege und zum erhaltenden Umgang mit den Altbauten in der DDR grundlegend beitrug. [4] Seine Projekte wurden später unter dem Begriff der „komplexen Rekonstruktion“ bekannt, die aber nicht Wiederaufbau einer historischen Architektur, sondern Instandsetzung der bestehenden, oder Abriss und Neubau im Altbaugebiet umfasste. [5]

Der Loests Hof wurde als „Modell für die industrielle Ausführung von komplexen Baureparaturen und Modernisierungsmaßnahmen“ durch die Abteilung Rekonstruktion der Wohngebäude, unter der Leitung von Günther Kabus (geb. 1931), am Institut für Architektur und Städtebau (ISA) der Bauakademie der DDR durchgeführt. Die Bauarbeiten übernahm der VEB Baureparaturen Halle. Die industriellen Baumethoden [6], die man schon bei den Neubauten erfolgreich einsetzte, sollten bei der Instandsetzung der Altbauten erprobt werden, um daraus eine Musterlösung für weitere Projekte zu erstellen. Auf der Baustelle wurde das Prinzip der Fließfertigung angewendet, das heißt, dass es zwischen den einzelnen Arbeitsschritten keine Unterbrechung geben sollte. Möglichst viele Bauelemente sollten deswegen vorgefertigt werden, um die Arbeiten und Abläufe vor Ort zu beschleunigen. [7] Bei den vorgefertigten Objekten handelte es sich unter anderen um Gipswabenkerntrennwände und Duschzellen aus Polyester.

Bei der Sanierung des Loests Hofs wurde versucht, den Wohnungen durch Modernisierungsmaßnahmen einen Neubaustandard von 1960er Jahren zu verleihen. Jede Wohnung bekam ein Badezimmer mit fließendem Wasser, eine Einbauküche und wurde mit Fernwärme versorgt. Die alten Fenster wurden durch Verbundfenster ersetzt. Auch Türen, Böden, Decken und Wände wurden erneuert. Der Innenhof wurde komplett entkernt und die Fassaden zur Hofseite verputzt (Abb. 6). [8]

Der Großteil der Bewohner*innen der Anlage kehrte nach der Sanierung in ihre alten Wohnungen zurück. Vor der Sanierung lebten 425 Familien in 402 Wohnungen, von denen zwei Drittel die 398 modernisierten Wohnungen bezogen. Es konnten also fast alle Wohnungen erhalten bleiben, was bei der Altbausanierung nicht immer der Fall war. Den restlichen Bewohner*innen, meistens mehrköpfige Familien, wurden aus Platzgründen andere Wohnungen angeboten. Die Zusammensetzung der Bewohner*innen stellte sich 1971 wie folgt dar: „206 Arbeiterfamilien, 104 Angestellte, 10 Angehörige der Intelligenz und 78 Rentner“ [9] zogen in die renovierte Häuser ein. Damit wurde die politisch gewollte soziale Durchmischung erreicht. Wie der Bürgermeister von Halle, Herbert Wald, 1972 prophezeite, sollten die Wohnungen den „Ansprüchen auch für die nächsten 30 bis 50 Jahre genügen.“ [10]

Und fast genau nach einem halben Jahrhundert wurde der Loests Hof 2019 durch MONTIS Real Estate GmbH gekauft und aufwendig saniert. Derzeit bietet die Anlage günstige möblierte Wohnungen für Studenten und Young Professionals, wie man es der Webseite der Firma entnehmen kann. Zusätzlich zu einer kleinen Wohnung kann eine „Washing Lounge“ sowie ein Arbeitsraum fürs „Co-Working“ genutzt werden. Im Innenhof befinden sich mittlerweile einige Bäume, die den strengen Charakter der gründerzeitlichen Architektur auflockern. Helle, bunte Bilder der Anlage, die unter dem Slogan „Einziehen und Wohlfühlen“ [11] vermarktet wird, weisen mit dem Flair der Aufnahmen von Lachmann wenig Gemeinsamkeiten auf, obwohl im Loests Hof nach der letzten Instandsetzung die ursprüngliche Gestalt einer Mietskaserne erhalten wurde.

 

Fotograf der sechs hier gezeigten Aufnahmen: Herbert Lachmann
(© Stadtarchiv Halle, mit freundlicher Genehmigung)

 

Anmerkungen

[1] Die meisten Fotos von Herbert Lachmann sind im Eigentum des Stadtarchives Leipzig, das sie 1982 von seiner Witwe ankaufte. Im Jahr 1990 schenkte das Stadtarchiv Leipzig die Aufnahmen, auf denen Halle zu sehen ist, dem Stadtarchiv Halle. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei den Archivar*innen der beiden Archive für die Klärung der Bildrechte, die Mitteilung von Herbert Lachmanns Lebensdaten und für die Möglichkeit der kostenlosen Verwendung der Bilder auf dieser Webseite bedanken. Abzüge der Fotos sind in den Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS Erkner unter den Signaturen D1_7_4–001, –002, –003, –004, –005 und –006 zu finden. Für weitere Bilder von Lachmann siehe z.B. Juliane Richter u. Katja Weise, DDR-Architektur in der Leipziger Innenstadt, Weimar 2015.

[2] Holger Brülls u. Thomas Dietzsch, Architekturführer Halle an der Saale, Berlin 2000, S. 181.

[3] Andreas Butter, Artikel „Prof. Dr. Bernhard Klemm“, veröffentlicht unter https://stadtwende.de/stadtwendepunkte/prof-dr-bernhard-klemm.

[4] Andreas W. Putz, Wo Paul und Paula lebten. Zur Erhaltung und „Rekonstruktion“ des Baubestands in der DDR, in: Tino Mager u. Bianka Trötschel-Daniels (Hgg.), Rationelle Visionen. Raumproduktion in der DDR (= Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR, Bd. 8), Weimar 2019, S. 81–99, hier S. 86–87.

[5] Jannik Noeske, Artikel „Komplexe Rekonstruktion“, veröffentlicht unter https://stadtwende.de/glossar/rekonstruktion-komplexe.

[6] Zur Anwendung der industriellen Lösungen im Umgang mit den Altbaugebieten siehe: Kirsten Angermann u. Tabea Hilse, Altstadtplatten. „Komplexe Rekonstruktion“ in den Innenstädten von Erfurt und Halle, Weimar 2014, S. 15.

[7] IRS Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, A_2_3–118 (Umgestaltung – Modell Halle, 1969).

[8] Siegfried Kaiser, Modernisierung von Wohnbauten in Halle, in: Deutsche Architektur, Bd. 21 (1972), S. 331–333.

[9] Herbert Wald, Erfahrungen der Modernisierung in Halle-Süd, in: Günther Kabus (Hg.), Komplexe Rekonstruktion von Altbaugebieten. Ein Beitrag zur Lösung der Aufgaben bei der Modernisierung von 115 TWE bis 1975. Gemeinsames Seminar der Zentralen Fachgruppe Rekonstruktion des BdA/DDR und der Zentralen Fachsektion Ausbau und Baureparatur des Fachverbandes Bauwesen der KDT am 23. und 24. März 1972 in Halle, Berlin 1973, S. 39–43, hier S. 41.

[10] Ebd., S. 39.

[11] https://www.loestshof.de.