von Stefanie Brünenberg, IRS Erkner
In den vergangenen Jahren wurde unter anderem der Vorlass des Architekten Gerd Pieper (*1942) in die Sammlungen aufgenommen. Pieper ist vor allem für seine gastronomischen Einrichtungen bekannt: Als Mitarbeiter des Bau- und Montagekombinats Ingenieurhochbau Berlin (BMK IHB) entwarf er unter anderem die Gaststätten im Berliner Kaffeehaus am Alexanderplatz, das Restaurant Moskau und das erste Pekingrestaurant der DDR. Daneben übernahm er unter anderem 1982 die Entwurfsleitung für ein zentrales Versorgungszentrum der Charité und gestaltete 1983 gemeinsam mit Christa Wenzel die Einfriedung des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee neu.
Sein Vorlass ist inzwischen zum Teil erfasst: Er beinhaltet vor allem Dokumentationen zu Piepers Projekten aus den 1980er Jahren. Darunter Material zum Wettbewerb Marzahn, dokumentarische Broschüren zu verschiedenen Quartieren an der Friedrichstraße sowie eine Studie und ein Gutachten zum ehemaligen Umspannwerk in der Mauerstraße.
Für den Fund der Monate März und April soll nun ein genauerer Blick in eine circa DIN A3-große Fotomappe aus dem Jahr 1974 geworfen werden, in der „Rekonstruktionen und Neubauten des VEB Bau- und Montagekombinats Ingenieurhochbau Berlin im Berliner Stadtzentrum“ dokumentiert sind (siehe Abb. 1). Jeweils auf Einzelseiten befinden sich großformatige Fotografien in bunt und schwarz-weiß von bekannten Berliner DDR-Bauten: unter anderem vom Müggelturm, dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und dem Flugzeughangar im Flughafen Berlin-Schönefeld. Die Gestaltung der Mappe verantwortete die DEWAG Werbung Berlin. Es scheint sich um eine Art Portfolio des BMK Ingenieurhochbau zu handeln, das zu bestimmten Anlässen überreicht wurde (vgl. Abb. 2). Leider lässt sich nicht feststellen, wer für die durchaus hochwertigen Fotografien verantwortlich ist – die Wissenschaftlichen Sammlungen würden sich über jeden Hinweis zu möglichen Rechteinhaber*innen freuen!
Beim Durchblättern des Bandes fällt insbesondere eines der seltenen Farbfotos des damaligen Lindencorsos auf (siehe Abb. 3). Der 1964 fertiggestellte Bau war ein Mehrzweckgebäude mit Gaststätten in den unteren beiden Geschossen und Büroflächen in den oberen Stockwerken.
Die Fotografie zeigt die vielbefahrene Friedrichstraße und die gut besuchte Terrasse der Gaststätte im Erdgeschoss. Als Besonderheit des Baus ist die Fassadengestaltung der oberen Geschosse zu identifizieren: Es scheint sich um eine Glasvorhangfassade mit teilweise blauen Rückwänden zu handeln, in der sich die Wolken spiegeln.
Für den Bau an der Ecke Friedrichstraße war 1962 ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, bei dem allerdings kein eindeutiger erster Preis ermittelt wurde. [1] Auf Grundlage der Entwürfe des ersten 2. Preises, erarbeitet von einem Kollektiv des VEB Industrieprojektierung Dresden, und des zweiten 2. Preises vom VEB Berlin-Projekt entstand der fünfgeschossige Bau in 23 Monaten Bauzeit zwischen 1964 und 1966 als Abschluss des Aufbaus der Straße Unter den Linden. [2] Der Bau füllte nicht den gesamten Block aus, sondern nahm die Bauflucht des in der Friedrichstraße gegenüberliegenden, leicht nach hinten versetzten Hotelbaus. So ergab sich vor dem Lindencorso eine Freifläche mit einem Brunnen.
Als Hauptprojektant war der VEB Berlin-Projekt eingesetzt, der Ende der 1960er Jahre in das BMK Berlin Ingenieurhochbau eingegliedert wurde. Für die Planung zeichnete laut Projektbeschreibung in der Bauzeitschrift Deutsche Architektur der Architekt Werner Strassenmeier verantwortlich. Er beschreibt im entsprechenden Artikel auch die Besonderheit der Fassade. Es handelt sich um eine zweischalige Wand mit dazwischen liegender Luftschicht. Der Bau war als Stahlskelettbau in der 2,0 Mp-Montagebauweise größtenteils in Vollmontage gebaut worden. Fast 1000 Gaststättenplätze standen unter anderem in einem Weinrestaurant, einem Konzertcafé, einer Espressobar sowie einer Tanz- und Nachtbar im Erd- und ersten Obergeschoss zur Verfügung. In den oberen Stockwerken gab es 575 Büroarbeitsplätze. Dort waren die Mitarbeiter*innen der Institute für Städtebau und Architektur (ISA) sowie für Industriebau in Großraumbüros mit zehn bis zwölf Arbeitsplätzen je Raum tätig. Die Bibliothek und die Büros der Mitarbeiter*innen des ISA mussten direkt nach der Wende das Lindencorso verlassen: Es ging zum Teil in die Wallstraße und zum anderen Teil in die Plauener Straße 163 in Berlin-Hohenschönhausen, wo der Präsident der Bauakademie seinen Sitz hatte. Das 1992 aus dem ISA neu gegründete Institut für Regionalentwicklung und Strukturwandel (IRS) zog Mitte der 1990er Jahre erneut um: Nun ging es nach Erkner, wo die Unterlagen des ISA die Grundlage der Wissenschaftlichen Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR bildeten. In Erkner sitzt das heutige Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung nach wie vor.
Das Lindencorso selbst wurde schon 1993 abgerissen, nur drei Jahre später stand eine der ersten Neubauten „Unter den Linden“: [3] Das vom Architekten Christoph Mäckler entworfene siebengeschossige Wohn-, Geschäfts- und Bürohaus erinnert gar nicht an den Vorgängerbau. Der Neubau mit einer massiven sandsteinverkleideten Fassade füllt die gesamte Ecke an der Friedrichstraße aus, von der Freiflächengestaltung des Lindencorsos aus den 1960er Jahren ist nichts mehr zu sehen (siehe Abb. 4).
Anmerkungen
[1] Redaktion: Wettbewerb Gaststätte Unter den Linden und Hotel Friedrichstraße in Berlin, in: Deutsche Architektur, H. 11/1962, S. 361–369.
[2] Werner Strassenmeier: Gaststätten „Unter den Linden“ Berlin, in: Deutsche Architektur, H. 2/1964, S. 325–329.
[3] Frank Schmitz u. Elke Jung-Wolff, Unter den Linden & Pariser Platz, Berlin 2007, S. 24–25.
Weiterführende Hinweise zu Gerd Pieper
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1063819.bauten-sind-fuer-menschen-da.html