DDR-PLANUNGSGESCHICHTE
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Dem Müllcontainer abgerungen
Dorothea Tscheschners Schilderung ihrer Rettung Ost-Berliner Unterlagen 1990/91

Fund des Monats (Nr. 17 vom Oktober 2021)

von Kai Drewes, IRS Erkner

 

Zu den vielen kleineren und größeren Dramen, die sich in Ostdeutschland rund um die Wiedervereinigung abspielten, gehört auch das Schicksal wertvoller Unterlagen (Akten, Pläne, Fotos etc.) aus Ämtern, Betrieben oder Forschungseinrichtungen der DDR, welche oft innerhalb kurzer Zeit aufgelöst oder stark umstrukturiert wurden. Leider kam damals binnen weniger Monate vieles für immer abhanden. Für die heutigen Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS war es von entscheidender Bedeutung, dass etwa Simone Hain und Alexander Obeth in den Wendewirren mit viel Engagement noch allerlei wichtige Materialien aus dem Institut für Städtebau und Architektur (ISA) sowie der Bauinformation der Bauakademie vor der sicheren Vernichtung oder auch Diebstählen bewahren konnten. Auf ähnliche Weise verfuhr in der Ost-Berliner Magistratsverwaltung, die Ende 1990 / Anfang 1991 abgewickelt wurde, die promovierte Architektin und Stadtplanerin Dorothea Tscheschner (geb. 1928) vom sogenannten Bezirksbauamt der DDR-Hauptstadt, deren von ihr selbst gut aufbereiteter Vorlass sich heute hauptsächlich im IRS befindet und viel genutzt wird. [1]

Über ihre aus eigener Initiative unternommene Rettung von Unterlagen gab Tscheschner 1991, noch recht zeitnah, im Rahmen einer Tagung kurz Auskunft – eine von sicherlich nur sehr wenigen Quellen zu den damaligen Ereignissen. Es handelt sich um Ausführungen im Anschluss an einen Vortrag, den sie im Rahmen der Tagung „Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte?“ der Historischen Kommission zu Berlin hielt, die Mitte Oktober 1991 im Deutschen Historischen Museum stattfand. Von der Tagung wurde vermutlich eine Tonaufnahme angefertigt und deren Wortlaut abgeschrieben, wobei in der vorliegenden Version (eine Fotokopie von vier nummerierten Seiten Typoskript) nur (und wohl wiederum nur auszugsweise?) Ausführungen von Tscheschner „in ihrer Antwort auf Fragen zum Referat“ enthalten sind. In ihren Aufsatz im Tagungsband fanden diese Passagen keinen Eingang. [2]

In ihrem dokumentierten Wortbeitrag skizziert Tscheschner zunächst knapp Geschichte und Funktion von Plankammer und Bibliothek des Bezirksbauamts und auf welch chaotische Weise die Abwicklung einsetzte: durch kurzfristig angesetzte Räumkampagnen, Entlassungen der für den Fundus unmittelbar zuständigen Personen, Desinteresse bei neuen Verantwortlichen, willkürliche Mitnahme diverser Unterlagen durch einzelne („Es verschwand dort also vieles, so schnell konnte man gar nicht gucken.“) und schließlich immer wieder Entsorgung: „Jeden Tag kam die Müllabfuhr und holte die Container ab.“ Als eine der „Dienstältesten im Haus“, die über einen langen Zeitraum „in den Planungen des Zentrums und nachher im Wohnungsbau tätig war“, habe Tscheschner zunächst einmal ihr eigenes, in dreieinhalb Jahrzehnten aufgebautes „Archiv“ aus dem Amt retten wollen und sei auf Grund der Menge des Materials schließlich auf die Berlinische Galerie (damals noch im Martin-Gropius-Bau untergebracht), genauer „einen riesigen [Dach-]Boden“, als geeigneten Ort für eine Zwischenlagerung gestoßen. Zum Landesarchiv Berlin, das das Ost-Berliner Stadtarchiv übernahm, habe sie seinerzeit kein Zutrauen fassen können, wobei sie interessanterweise auch ausdrücklich auf die zu erwartende gesetzliche Sperrfrist hinweist – sie habe verhindern wollen, „daß meine Lebensarbeit hier in Berlin in einer 30jährigen Dokumentensperre verschwindet“. [3] Ihr Vorschlag, alternativ ein Museum wenigstens mit den Materialien aus der frühen DDR-Zeit auszustatten, sei abgelehnt worden.

In der Folge, so Tscheschner, habe sie durch Ansprache von Kolleginnen und Kollegen, letztlich aber vor allem auf eigene Faust („eine absolute Ein-Mann-Aktion“ [!]), versucht zu retten, was noch zu retten war. Seit dem Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung im Ruhestand, aber offenbar noch einige Monate lang mit Zugang zum Gebäude, war sie auf diese Weise auch noch Anfang 1991 in eigener Initiative aktiv. Ihre knappen Ausführungen zu den zunehmenden ausdrücklichen Vorgaben, nichts dürfe das Amtsgebäude verlassen, der Entsorgung enormer Mengen an Papier usw. im Müll und der unkontrollierten Selbstbedienung durch einzelne lassen erahnen, wie dramatisch sie die entscheidenden Tage und Wochen empfand. Selbst habe sie nicht zuletzt auch aus den „bereits gepackten Müllcontainer[n] im Haus“ Stücke wieder herausgenommen, um diese zu sichern. Letztlich habe sie freilich nur „Bruchstücke“ retten können, während „vieles, von dem wir wußten, daß es existiert hat, einschließlich der Originalplanungen von Speer oder Teilen davon, […] auf Nimmerwiedersehen verschwunden“ sei. Die Presse zu kontaktieren und so öffentliche Aufmerksamkeit für die Problematik zu erzeugen sei ihr bei alledem im Übrigen in keiner Weise sinnvoll erschienen.

Es wäre interessant, würde jedoch aufwändiger Recherchen bedürfen, um von heute aus stärker im Detail zu versuchen nachzuvollziehen, welche Archivalien, Pläne, Fotos, Bücher etc. (auch Modelle?) des Berliner Bezirksbauamts 1990/91 unwiederbringlich vernichtet oder an andere Stellen gebracht wurden. Bekannt ist, das sei nicht vergessen, dass immerhin das bedeutende „Ostberliner Fotoarchiv“ des Bezirksbauamts, das sich seit 1992 in der Berlinischen Galerie befindet [4], von der (Gesamtberliner) Senatsbauverwaltung in seinem Wert erkannt und eingelagert wurde. [5] Diejenigen der von ihr geretteten Unterlagen, die Dorothea Tscheschner später dem IRS anvertraut hat, [6] bilden einen für die Ost-Berliner Stadtplanungsgeschichte sehr wichtigen Bestand, und wir sind ihr außerordentlich dankbar für ihren mutigen Einsatz zur Wendezeit (wobei wir heute, anders als sie damals, selbstverständlich von einer „Ein-Frau-Aktion“ sprechen würden). Höchst erfreulich ist, dass Tscheschner nach 1990 noch eine lange, fruchtbare wissenschaftliche und gutachterliche Tätigkeit im Hinblick auf die Berliner Stadt(bau)geschichte vergönnt gewesen ist, die in ihrem Vorlass ebenfalls dokumentiert ist.

Die hier vorgestellte Quelle allerdings findet sich gar nicht darin, in ihren eigenen Unterlagen zur Tagung von 1991, [7] sondern im Archiv unseres Archivs: in einem alten Aktenordner mit dem Titel „Gründungsakte“ mit Unterlagen der frühen 1990er Jahre, als sich die Wissenschaftlichen Sammlungen am ISA bzw. neu gegründeten IRS formierten und allmählich konsolidierten. Simone Hain, die damals den architekturhistorischen und Sammlungsbereich am IRS leitete, erhielt die vier Seiten im Juli 1992 von dem Architekturpublizisten (Dieter) Robert Frank (1926–2017) als Ergänzung seines ebenfalls fotokopierten Typoskripts für einen Beitrag über Geschichte und Gegenwart der Architekturarchive in Berlin, der kurze Zeit darauf im ersten Jahrbuch der Architektenkammer der wiedervereinigten Hauptstadt erschien. [8] Franks Aufsatz, der auch auf die Diskussion um den Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie und deren mögliche Nutzung (etwa als Architekturmuseum und Ort der Debatte über gegenwärtige Architektur) Bezug nimmt, für welche er nachdrücklich einen Vorrang der zu klärenden Funktion des Gebäudes vor einer Rekonstruktion der alten Fassaden empfiehlt, ist ebenfalls interessant und verdient nach bald 30 Jahren eine Relektüre; aber dies ist ein anderes Thema. Tscheschners Äußerungen vom Vorjahr werden in Franks Text zwar nicht angeführt, aber er hat sie offenkundig mit großem Interesse wahrgenommen, positiv bewertet und wollte sie Hain mit Blick auf ihre Bemühungen zur Bewahrung von Quellen zur DDR-Architekturgeschichte zugänglich machen (von ihr stammen die grünen Markierungen mit Textmarker). Woher er selbst den Auszug aus der Tagungsdokumentation hatte, lässt sich nicht feststellen. Die von ihm übersandten Fotokopien enthalten auf der ersten Seite mit Tscheschners Passagen auch seine lakonische handschriftliche Notiz dazu: „Über die fragwürdige Erledigung von Stadt- und Baugeschichte durch die Müllabfuhr.“

 

Anmerkungen

[1] IRS Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, Bestand C 25. Für dessen Charakterisierung sei aus der Beständeübersicht der Wissenschaftlichen Sammlungen zitiert:

Vorlass Dorothea Tscheschner

Enthält:
Berlin, Zentrumsplanung, 1959-1977. – Berlin, Verkehrsplanung Alexanderplatz/Stadtzentrum. – Berlin, Wiederaufbau und Stadtplanung (Generalbebauungspläne 1964-1979; Flächennutzungsplan; Wohnungsbaustandorte; Versorgungsplanung-Wärme, Lebensmittel; Ideenwettbewerb Zentrum Berlin, 1958/59; Straßenhauptnetz, 1981). – Dissertation (Entwicklungstendenzen der Zentrumsstruktur innerhalb der Herausbildung einer sozialistischen Stadtgestalt- dargestellt am Beispiel von Berlin), 1970. – Schriften der Bauakademie, 1966-1990. – Hermann Henselmann (Texte von und über H.H.). – Texte zum Wiederaufbau der Bauakademie, 1993-1999. – Berlin, Wohnungsbautypen (WBS 70, komplexer Wohnungsbau), 1968-1987. – Berlin, Gesellschaftsbautypen (u. a. Schule, Kinderkrippe, Kindergarten, Kaufhalle), 1967-1986. – Bezirke der DDR, Wohnungs- und Gesellschaftsbautypen, 1968-1988. – Berlin, Wohnungsbau (einzelne Stadtbezirke wie Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain, Hohenschönhausen, Marzahn, Hellersdorf). – Berlin, Bebauungspläne (u.a. Mitte, Friedrichstadt, Alexanderplatz), 1963-1988. – Berlin, Stadtzentrum-Wettbewerbe, 1954-1991. – Historische Kommission (Tagungsband „Karl-Marx-Allee“ und Tagung „Die Karl-Marx-Allee zwischen Straußberger Platz und Alex“, 1998). – Buch „Alexanderplatz“, 1993-1998. – Arbeitstagebücher D. Tscheschner, 1964-1989. – Umfangreiche Diasammlung (Berlin, u. a. Zentrum, Stalinallee/ Karl-Marx-Allee).
7 lfm          1954-2001

Zu weiteren Unterlagen von ihr in der Getty Foundation vgl. Anm. 6.

[2] Dorothea Tscheschner, Der „Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstatdt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin“, in: Helmut Engel u. Wolfgang Ribbe (Hgg.), Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte? Historische, städtebauliche und architektonische Wurzeln des Stadtzentrums (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), Berlin 1993, S. 201–220.

[3] Zum jetzigen Bezirksbauamts-Bestand im Landesarchiv Berlin siehe die Angaben in der dortigen Beständeübersicht. Demzufolge handelt es sich um solche Unterlagen, die schon zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in das Zwischenarchiv des Ost-Berliner Magistrats gelangt waren.

[4] Website: berlinischegalerie.de/sammlung/sammlung-online/ostberliner-fotoarchiv.

[5] Eva-Maria Barkhofen, Ost-Berlin und seine Bauten. Das Fotoarchiv der Ost-Berliner Bauverwaltung 1945–1990, in: dies. (Hg.), Ost-Berlin und seine Bauten. Fotografien 1945–1990, bearb. von Andreas Butter und Benedikt Goebel, Berlin 2006, S. 8–11, hier S. 9. Ebd., S. 8 wird neben Bruno Flierl und der Fotografin Gisela Dutschmann auch Dorothea Tscheschner gedankt für ihre Angaben zur Geschichte des Fotoarchivs. Sie gehörte auch dem Beirat des Projekts der Berlinischen Galerie an, in dem das Archiv mit Unterstützung der Getty Foundation zwischen 2003 und 2005 erschlossen wurde (ebd., S. 10). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Anm. 6.

[6] Einige Unterlagen von ihr, immerhin 14 Kartons, finden sich auch in den „DDR Collections“ der Getty Foundation in Los Angeles, vgl. im dortigen Findbuch die Angaben auf S. 12 f., 23 u. 142–148.

[7] Es handelt sich um eines der Konvolute in IRS Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, C 25_44.

[8] Robert Frank, Vom Architekturmuseum zur Neuen Bauakademie. Berliner Architekturarchive und -sammlungen, in: Architektur in Berlin. Jahrbuch 1992, hg. von der Architektenkammer Berlin, Hamburg 1992, S. 178–182.