von Kai Drewes, IRS Erkner
Mit dem Fund des Monats Dezember 2021 wünschen wir allen, die dies lesen, eine angenehme Advents- und Weihnachtszeit!
Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz, um 1980 (Fotograf: Rainer Lehmann)
Das (im Original unbetitelte) Schwarz-Weiß-Foto des seinerzeit beliebten (Ost-)Berliner Weihnachtsmarktes zwischen Jannowitzbrücke und Alexanderplatz befindet sich im Bildarchiv der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS in einem Konvolut zu Berlin-Mitte mit der Signatur D 1_1_1_23A („Weihnachtsmarkt am Alex“) und ist in Form von drei Abzügen (jeweils ca. 24 x 23 cm groß) vorhanden. Als Fotograf ist durch Stempel auf der Rückseite (nur im Fall eines von drei Abzügen) Rainer Lehmann aus Berlin nachweisbar.
Das hier gezeigte abendliche Foto aus der Vogelperspektive ähnelt dem Farbfoto von Wilfried Glienke aus dem Jahr 1975, das SPIEGEL Online vor wenigen Jahren in einer Bildstrecke veröffentlicht hat. [1] Da es den Weihnachtsmarkt an dieser Stelle seit 1974 gab und auf den beiden Aufnahmen im Detail leichte Unterschiede hinsichtlich der Weihnachtsmarktstände usw. festzustellen sind, ist Lehmanns Foto wohl in der zweiten Hälfte der 1970er oder ersten Hälfte der 1980er Jahre entstanden, und zwar vermutlich 1977. [2] Im IRS-Konvolut befinden sich noch zwei etwas kleinere und andersformatige (beschnittene?) Abzüge einer weiteren Aufnahme Lehmanns aus einer leicht anderen Perspektive, die offenkundig nur wenige Minuten vorher oder nachher aufgenommen wurde, außerdem eine wiederum ähnliche Schwarz-Weiß-Aufnahme des Weihnachtsmarkts von 1984 von dem Fotografen Heinz Schönfeld.
Das Foto verweist auf verschiedene Aktivitäten und Fragen, die das Team der Wissenschaftlichen Fragen stark beschäftigen: Die wohl mindestens ca. 200.000 fotografischen Objekte, die im IRS mittlerweile in verschiedenster Form vorliegen, sind besonders wertvolle, viel genutzte Ressourcen für Forschung, Denkmalpflege, Museen, Medien usw. Viele dieser Schätze sind allerdings noch längst nicht gehoben. Die Digitalisierung und Erschließung (und verbesserte Lagerung) der Fotobestände beständig voranzutreiben ist daher von erheblicher Bedeutung und wird vom Archivteam mit viel Einsatz betrieben, kann allerdings umfassend letztlich nur durch die Einwerbung von Drittmitteln realisiert werden. Das Scannen und differenzierte Beschreiben bzw. Verschlagworten der Fotos, Dias usw. ist im Übrigen ein komplexer Prozess und erfordert ein standardisiertes Vorgehen, in das viele Erfahrungswerte und der intensive Austausch mit anderen Kultureinrichtungen einfließen. Hinsichtlich der Bildinhalte wiederum sind mitunter aufwändige Recherchen notwendig, um Aufnahmeorte und -daten, Urheberinnen etc. zu ermitteln – was oft spannende Detektivarbeit mit sich bringt.
Im vorliegenden Fall bleiben vorerst vergleichsweise wenige Fragen offen, im Hintergrund des Fotos sind ja unter anderem Fernsehturm und Hotel Stadt Berlin deutlich zu erkennen. Über den Fotografen Rainer Lehmann freilich wissen wir bislang so gut wie nichts, außer dass er 1971 mit einem Foto („Betriebsbesichtigung“) bei der Ausstellung 1. Porträtfotoschau der DDR in Dresden und Berlin vertreten und „vermutlich ein[ ] Fototamateur oder Bildreporter“ war. [3] Das oben gezeigte Foto wurde offenbar von der Bauakademie der DDR angekauft, aus dessen Institut für Städtebau und Architektur nach der Wende das heutige IRS hervorgegangen ist. Nun beschäftigen Fragen des Urheber- und Nutzungsrechts viele Archive, Museen usw. gerade im Fall von Fotos längst enorm. Andere würden das hier gezeigte Bild sicherheitshalber eher nicht ins Internet stellen, da es sich faktisch um ein sogenanntes verwaistes Werk handelt. Auch mit dieser Rechtsmaterie und Möglichkeiten des Umgangs damit haben wir uns dieses Jahr etwas mehr beschäftigt, etwa in einem ergiebigen Workshop der Leibniz-Archive mit dem renommierten Fachanwalt Paul Klimpel. Meine persönliche Annahme ist zunächst einmal, dass in diesem Fall Rainer Lehmann, der als Fotograf vermutlich semiprofessionell tätig war, froh wäre, die Würdigung zu erfahren, die er verdient. Weitere Informationen zu seinem Leben und Werk sind hoch willkommen!
Was ein guter Anlass ist, an dieser Stelle schon einmal auf das gerade eben begonnene, vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Projekt CITIZENARCHIVES der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS in Zusammenarbeit mit der Programmfabrik GmbH hinzuweisen, denn darin geht es um die bürgerwissenschaftliche Beteiligung an der Erschließung zum Beispiel von Fotos in einer online präsentierten Datenbank. Hierzu gelegentlich mehr …
Anmerkungen
[1] Lebenslauf an Silvester. Große Vorsätze, kleine Abstürze („Er sollte seinen Lebenslauf schreiben und hatte auch gute Vorsätze, schon wegen Frau Wagenbach. Dann kam Silvester dazwischen. Mark Scheppert erzählt vom Start ins Jahr 1987 in Berlin-Friedrichshain.“), am 31. Dezember 2018 veröffentlicht unter https://www.spiegel.de/fotostrecke/mark-scheppert-lebebenslauf-und-silvester-fotostrecke-165855.html.
[2] Auf dem Foto ist unten links bei starker Vergrößerung das Eingangsschild mit der Aufschrift „Berliner Weihnachtsmarkt“ zu erkennen, darunter dessen Laufzeit, deren Ende mit einiger Wahrscheinlichkeit als „18.12.77“ zu lesen sein dürfte. Vgl. zum Weihnachtsmarkt in diesem Jahr auch den Fernsehbeitrag aus der Berliner Abendschau des (West-Berliner) Senders Freies Berlin vom 10. Dezember 1977, online unter https://www.youtube.com/watch?v=cCi_caFR9gg.
[3] Agneta Jilek, Abgesang auf die Helden. Repräsentationen des arbeitenden Menschen auf den Porträtfotoschauen der DDR (1971–1986), in: Knud Andresen et. al. (Hgg.), Repräsentationen der Arbeit. Bilder – Erzählungen – Darstellungen, Bonn 2018, S. 213–231, hier S. 219 (S. 220 Abbildung des Fotos), auch online unter https://www.academia.edu/37035107/Abgesang_auf_die_Helden_Repr%C3%A4sentationen_des_arbeitenden_Menschen_auf_den_Portr%C3%A4tfotoschauen_der_DDR_1971_1986_In_Andresen_Knud_et_al_Hrsg_Repr%C3%A4sentationen_der_Arbeit_Bilder_Erz%C3%A4hlungen_Darstellungen_Berlin_2018_S_213_231.