von Stefanie Brünenberg, IRS Erkner
Als im Frühjahr 2020 die Viruskrankheit „COVID-19“ Mitteleuropa erreichte, waren die Folgen für die Menschen in Deutschland kaum absehbar. Jetzt, zwei Monate nach Beginn der politisch verordneten Kontaktsperren, können auch die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS in Erkner langsam über eine Wiederöffnung für Nutzer*innen unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen nachdenken. Spätestens in den letzten beiden Monaten ist uns allen aber besonders bewusst geworden, welche Vorteile das sogenannte digitale Zeitalter mit sich bringt: Dank der Mitarbeiter*innen im Archiv, die in den letzten Jahren immer wieder einzelne Akten gescannt haben, können Wissenschaftler*innen ortsunabhängig weiter recherchieren und forschen. Auch auf diesem Onlineportal sind bereits einige Bestände der Sammlungen in digitalisierter Form vorhanden. Aus diesem Fundus wurde der Fund des Monats vom Mai 2020 ausgewählt: die 17-seitige Mitschrift Bruno Flierls zum Müggelturmgespräch von 1963, die hier erstmals als vollständiges Transkript präsentiert wird (als PDF-Datei zum Herunterladen durch Klicken auf das Bild).
Hinweis zum Transkript: Die Autorin hat sich bemüht, die Handschrift Bruno Flierls genau zu lesen und den Text zu übertragen. Nicht alle Wörter waren lesbar, und in einigen Fällen konnte ihre Bedeutung nur vermutet werden. Rot markiert sind die Textstellen, die Flierl in seinem Bericht für die Deutsche Architektur übernommen hat.
Als 1958 der beliebte Holzaussichtsturm auf dem Kleinen Müggelberg abbrannte, schrieb die Berliner Zeitung einen Wettbewerb für einen Neubau aus. Ein studentisches Kollektiv der Hochschule Berlin-Weißensee (Jörg Streitparth, Siegfried Wagner und Klaus Weißhaupt) gewann mit dem progressiven Entwurf eines Turms mit ovalem Grundriss – die durch Spenden im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks finanzierte Umsetzung bis 1961 erfolgte zwar in abgewandelter rechteckiger Form, dennoch stand der neue Müggelturm für eine neue, deutlich modernere und vor allem individuellere Formensprache in der Architektur der DDR. Nicht nur auf Grund der Wahl dieses Veranstaltungsortes waren die Erwartungen hoch, als am 20. Februar 1963 der neu berufene Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker, Architekt*innen und Städtebauer*innen zu einem Gespräch einlud: Der junge Minister, gerade 34 Jahre alt, versprach einen Generationswechsel in der Baupolitik, gleichzeitig gab es Anfang der 1960er Jahre einige Bestrebungen zur Liberalisierung und Reform der Kulturpolitik. Die Intention Junkers auf dem Müggelberg war es, insbesondere die aufstrebende junge Architekt*innengeneration nach ihrem Bild von Architektur und Städtebau der DDR zu fragen – und offen mit ihnen darüber zu diskutieren.
Protokolliert – und wenige Wochen später auch als Bericht publiziert – wurde das bis in die späten Abendstunden andauernde Gespräch von Bruno Flierl, der seit 1962 Chefredakteur der Fachzeitschrift Deutsche Architektur war. Der Bericht Flierls erschien im dritten Heft des Jahres 1963 als einseitiger Auszug aus vermeintlichen Zitaten der Diskussion: Nur ein kurzes redaktionelles Statement zum Kontext des Gesprächs ist vorangestellt, dann folgen Redebeiträge der Beteiligten. Schon diese kurzen Auszüge zeugen von einer offenen und ehrlichen Atmosphäre des Gesprächs. Wolfgang Junker räumt Fehler im bisherigen System des Bauwesens ein; Heinz Graffunder berichtet, wie er „die ‚oberen‘ Stellen“ überlistet und sich „mit dem Buschmesser durch den Wust der Verordnungen“ hindurchschlägt; Martin Wimmer kritisiert die Typenprojektierung; Lothar Kwasnitza ruft zu mehr „Zorn“ unter den Architekt*innen auf. Das abgedruckte Schlusswort Junkers deutet weitere solche Gespräche an.
Im Vorlass Bruno Flierls in den Wissenschaftlichen Sammlungen befindet sich seine originale Mitschrift des Gesprächs (Signatur: C_5_14): Auf 17 handschriftlichen Seiten finden sich nicht nur noch mehr kritische Wortbeiträge, es wird darüber hinaus auch deutlich, dass die abgedruckten Beiträge für das bessere Verständnis deutlich redaktionell bearbeitet wurden. In der hier beigefügten Abschrift anhand des Originals kann die Diskussion, wie Flierl sie protokolliert hat, nachvollzogen werden. Weitere an diesem Abend angesprochene Themen sind beispielsweise die Schwierigkeit, neue innovative Baustoffe zu verwenden oder überhaupt genügend zu haben, um Projekte umzusetzen. Unter anderem Strassenmeier und Beige fordern individuellere Wohnungsgrundrisse und die Ausnutzung der Kapazitäten der Architekten im Entwurf – nicht in der Reißbrettarbeit. Diesem stimmt auch der Wortbeitrag von Dullin zu – hier könnte es sich um die spätere Stadtarchitektin von Neubrandenburg, Iris Dullin-Grund, handeln. Auch der Bitterfelder Weg – das 1959 beschlossene Kulturprogramm – wird von Kosel für die Architektur gefordert: Nutzer*innen müssten einbezogen werden, man solle mehr Experimente wagen. Der in der Sowjetunion ausgebildete Architekt Lothar Kwasnitza spricht sogar die anscheinend gängige Meinung an, dass der Architekt*innenberuf in der DDR keine Zukunft und man nicht so viele Möglichkeiten wie im Westen habe. Wolfgang Junker bezeichnet das Gespräch am Ende als „Ausgangspunkt für [eine] gründliche Veränderung in der Leitung des Bauwesens“ und betont seine Bereitschaft, jeden Monat ein solches Gespräch durchzuführen.
Die in der Deutschen Architektur veröffentlichte, dann zensierte Version des Müggelturmgesprächs (erschienen in Heft 3/1963, S. 132)
Die Publikation der Auszüge aus dem Gespräch wäre daher eine logische Konsequenz zur Verbesserung der Kommunikation und Diskussion zwischen Politik und Praxis gewesen. Doch der Abdruck der Zitate Junkers war ohne „Genehmigung“ erfolgt – die Berichterstattung wurde von der Abteilung Bauwesen des Zentrakomitees der SED stark kritisiert, von den noch nicht ausgelieferten Exemplaren des Heftes wurde die entsprechende Seite herausgetrennt. Gleichzeitig wurde die „Qualität“ der Zeitschrift grundsätzlich hinterfragt. Aufschluss dazu gibt eine von Bruno Flierl zusammengestellte Sammlung von Dokumenten unter dem Titel „Kritik an DA + an mir April 1963“, die sich im selben Konvolut in den Wissenschaftlichen Sammlungen befindet. Neben Gesprächsnotizen aus Diskussionen mit Gerhard Trölitzsch, dem Leiter der ZK-Abteilung Bauwesen, Wolfgang Junker und anderen Vertretern der Politik findet sich hierin auch ein im Mai 1963 vorgelegter „Rechenschaftsbericht“ eines kurz nach Erscheinen des Heftes eingesetzten Redaktionsbeirates, der den Bericht über das Müggelturmgespräch „als besonders ernste[n] politische[n] Fehler“ beurteilt. Dazu heißt es: „Dabei sind die von den Architekten vorgebrachten negativ-kritischen Äußerungen gegenüber den Antworten des Ministers in einer Weise herausgestellt und in der Zitatform des Berichts auch auf eine Weise zusammengesetzt worden, daß der falsche Eindruck entsteht, als gäbe es einen Gegensatz zwischen der Architektenschaft und den leitenden Organen des Bauwesens und als habe sich der Minister beeilt, ‚berechtigte Forderungen der jungen zornigen Leute‘ anzuerkennen und sie zur Grundlage seiner künftigen Arbeit machen zu wollen“. Damit wird die scheinbare Offenheit und das Interesse des Ministers an der Meinung der jungen Architekt*innen negiert – und selbstverständlich wurde ein solches Gespräch nicht wiederholt. Bruno Flierl musste als Chefredakteur alle folgenden Ausgaben der Deutschen Architektur ideologisch konzipieren und kontrollieren lassen. Schon 1964 gab er seinen Posten als Chefredakteur auf.
Und der Ort des Geschehens? Nachdem der Müggelturm durch fehlgeschlagene Investitionen in den 1990er Jahren stark sanierungsbedürftig war, konnte das Areal Anfang 2018 wieder eröffnet werden. Der Turm selbst bietet einen Ausblick über die Müggelberge, den Müggelsee und den Langen See. Da er aber nicht barrierefrei ist, sollte ursprünglich ein zweiter „Zwillingsturm“ mit Aufzug das Ensemble ergänzen – im Frühjahr 2019 einigten sich der Besitzer und einer der ursprünglichen Architekten darauf, Siegfried Wagner, den ursprünglichen Entwurf aus dem Jahr 1958 mit ovalem Grundriss jetzt umzusetzen.
Flierl, Bruno: Selbstbehauptung. Leben in drei Gesellschaften, Berlin 2015, S. 172f.
Zervosen, Tobias: Architekten in der DDR. Realität und Selbstverständnis einer Profession, Bielefeld 2016, bsds. S. 153–157